Die schillernd schräge Welt der Bahnhofsgaststätten – eine Hommage an eine aussterbende Spezies
Buchtipp Guido Fuchs (Hg.): In der Bahnhofsgaststätte. Ein literarisches Menü in zwölf Gängen
Bahnhofsgaststätten, auch Bahnhofsrestaurant, Bahnhofsbeisl, Bahnhofsbuffet oder auch Bahnhofswirtschaft genannt, gab es früher fast wie Sand am Meer. Jeder halbwegs wichtige Bahnhof hatte eine, große, wichtige und internationale Bahnhöfe hatten meist sogar mehrere Bahnhofsgaststätten aufzubieten.
Für jeden Geldbeutel etwas und mehr oder weniger streng nach Klassen eingeteilt. Für das ganz einfache Volk gab es die Bahnhofsgaststätten mit Wartesaal der 3. Klasse, für die Mittelschicht die der 2. Klasse und für die Reichen und Schönen – oder die sich dafür hielten – den Speise-, Trink- und Aufenthaltsbereich der 1. Klasse. Um genau zu sein, es gab noch etwas darüber, zumindest in Österreich hatte der Kaiser (Franz Josef I) an Bahnhöfen, die er oft frequentierte – so wie den Bahnhof in seiner Sommerresidenz Bad Isch – noch einen eigenen Kaiserpavillon, der nur ihm und seinem Hofstaat vorbehalten war.
Leider haben 2 Weltkriege und die Herrschaft des Kommunismus und des Sozialismus alle Erinnerungen daran zerstört, dem Klassenkampf, der ja in Österreich bis dato andauert (bis vor wenigen Jahren Einreiseverbot und Verbot politischer Betätigung für das Haus Habsburg, Verbot von Adelstiteln bis heute!) fielen auch die kaiserlichen Warteräumlichkeiten zum Opfer.
Heute gibt es nur mehr wenige Bahnhofswirtschaften in Österreich und auch in Deutschland, in der Schweiz gibt es zumindest als Ersatz an vielen Bahnhöfen sogenannte Kioske, also eine Rückversicherung für die Reisenden, dass man vor Ort am Bahnhof nicht verdurstet und nicht verhungert.
Aber kein Vergleich zu echten Bahnhofsrestis, ganz gleich ob vornehm, einfach oder grindig, solchen Lokalkalorit erlebt man leider immer seltener.
Und schon gar nicht auf Bahnhöfen der ÖBB, die im Rahmen der sogenannten Bahnhofsinitiative modernisiert wurden, da gibt es keinen Service mehr, keinen Schalter, kein Klo und kein Waschbecken oder Wasser zum Nachfüllen der Feldflasche, keinen beheizten Warteraum und schon gar nicht so etwas wie ein Bahnhofsrestaurant, einzig ein meist zugiger Glaskäfig als Aufenthalts- und Wartebereich für alle Klassen in der beim “Modernisieren” hinterlassenen Betonwüste wird den zahlenden Fahrgästen zugemutet.
Umso erfreulicher ist es für die Liebhaber der Eisenbahn und der Bahnhofswirtschaften, dass sich der passionierte Eisenbahnreisende, Publizist, Theologe und Kulinarist Guido Fuchs mit dem Thema auseinandergesetzt hat und ein Buch über das Sein und Werden in Bahnhofsgaststätten geschrieben hat.
Fuchs lässt dabei vor allem teilweise sehr bekannte Schriftsteller zu Wort kommen, die sich in ihren Werken mehr oder minder ausführlich dem Thema gestellt hatten. Es sind dies u.a. Heinrich Böll, Hans Fallada, Gertrud Fussenegger, Günter Grass, Gerhart Hauptmann, Herta Müller, Walter Kempowski, Rosa Luxemburg, Sten Nadolny, Carl von Ossietzky, Alfred Polgar, Joseph Roth, Lew Tolstoi, Robert Walser, Franz Werfel und viele andere.
Das Buch ist vor allem als Lesebuch gedacht, das man nicht systematisch von vorne bis hinten durchliest, sondern in das man hineinschmökert, nach Lust und Laune darin blättert und da und dort sich vertiefend in die Position des Erzählers oder der handelnden Personen (Fahrgäste) versetzt, sinnierend, von Zeit zu Zeit am Glas Roten oder Weißen nippend.
In 12 Gänge gliedert der Herausgeber sein Buch, nämlich wie folgt:
VORWORT Eine Stunde Aufenthalt 7
ERSTER GANG: »Jeder Bahnhof ein Wirtshaus, jeder Stationschef ein Gastwirt«Von Bahnhöfen und ihren Gaststätten, vom Reisen und Speisen 13
ZWEITER GANG: »Wer hier sitzt, hat Würde«
Von prächtigen Wartesälen und mächtigen Speisekathedralen 27
DRITTER GANG: »Ich möchte Jedermann warnen …« Vom früheren Abenteuer des Reisens und Speisens in fremden Ländern 47
VIERTER GANG: Pendler, Penner und Pennäler
Von Reisenden und vielen anderen Gästen des Bahnhofslokals 67
FÜNFTER GANG: Die Welt ist klein. Von heiteren Begegnungen, denkwürdigen Treffen und traurigen Abschieden 91
SECHSTER GANG: Es duftete nach der weiten Welt
Von heimatlichen Zufluchten und heimlichen Fluchtpunkten 111
SIEBTER GANG: »Mach’s gut!« Von tiefsinnigen Gesprächen, beredtem Schweigen und klugen Gedanken 129
ACHTER GANG: Rilke im Bahnhofsbuffet. Von Bahnhofscafé-Lyrikern und Kneipen-Literaten, Briefen und Postkarten 149
NEUNTER GANG: »… worauf die Leute in den Wartesälen warten«
Von Unbequemlichkeiten, unerwarteten Erfahrungen und dem Sinn des Lebens 165
ZEHNTER GANG: »Herrschaften wünschen zahlen?« Von Bahnhofswirten, obstinaten Obern und anstelligen Kellnerinnen 181
ELFTER GANG: »Die Goschen halten und servieren!«. Von erlesenen Speisen, belebenden Getränken und merkwürdigen Genüssen 103
ZWÖLFTER GANG: Bahnhofsgaststättenvorfall
Von durchbrechenden Zügen und anderen Ereignissen 229
Es freue mich sehr, dass auch ich etwas zum Gelingen dieses herrlichen Buches beitragen konnte. Das Umschlagfoto vorne stammt aus meinem Archiv. Es zeigt die erste Seite der Speisekarte des Wartesaals 2. Klasse im Zentralbahnhof Berlin Friedrichstraße aus dem Jahr 1938. Meine Oma Auguste “Gusti” Populorum hatte diese von ihrer Reise “ins Reich” nach Dresden und Berlin mitgebracht.
Fazit:
Für Freunde der Eisenbahn und von Bahnhofsgaststätten ein MUSS, dieses Buch zu erwerben. Sicher auch ein feines Lesebuch für Reisen mit der Bahn heuer im Sommer, wohin die Reise auch gehen mag.
Zitat: Guido Fuchs (Hg.). In der Bahnhofsgaststätte. Ein literarisches Menü in zwölf Gängen. 260 Seiten | 14 x 21,5cm, Klappenbroschur.
Verlag Monika Fuchs, Hildesheim 2018. ISBN 978-3-947066-65-0
17,50 € (D) | 18,00 € (A) | 24,90 sFr (UVP)
Link: Provisorische Zusammenstellung von Bahnhofsrestis in Österreich am DEEF-Server (wird ausgebaut) >>>
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Bericht von: Dr. Michael Alexander Tiberius Populorum, Chefredakteur Railway & Mobility Research Austria / DEEF
Erstmals Online publiziert: 30. Juni 2019; Letzte Ergänzung: