Raketen statt Bier – Rüstung im 2. Weltkrieg in der Zipfer Brauerei, Deckname Schlier
Vorbemerkungen
Aufgrund der zunehmenden Luftüberlegenheit der Amerikaner und Engländer im 2. Weltkrieg ab 1942/43 und den daraus folgenden Einschränkungen in der Rüstungsproduktion, wurden Rüstungsbetriebe vermehrt unter die Erde verlegt. Dabei waren bereits vorhandene zivile Einrichtungen mit großen und von der Luft aus nicht einsehbaren und geschützten Kellern oder Stollen natürlich begehrte Objekte der Begierde der Rüstungsindustrie. So auch Brauereien, die aufgrund der damaligen Produktionsabläufe in der Bierproduktion ohne künstliche Kühlungsmöglichkeiten wie heute meist große Keller zur Kühlung und Lagerung hatten.
Auch die Brauerei Zipf im Oberösterreichischen Hausruckviertel (Bezirk Vöcklabruck) war prädestiniert, als Rüstungsbetrieb zu fungieren, auch weil die dortigen morphologisch-geologischen Gegebenheiten sowie ein Bahnanschluss an die nur ca. 1 km entfernte Westbahnstrecke Wien-Salzburg optimale Voraussetzungen für dieses Absichten lieferten.
Rüstungsbetrieb Schlier
Ab Herbst 1943 mutierte die Bierbrauerei in Zipf zu einem wichtigen Rüstungsbetrieb. Die vorhandenen Bierkeller und unterirdischen Gänge mussten erweitert und miteinander verbunden werden. Dazu bediente man sich vorwiegend an Zwangsarbeitern (Kriegsgefangene bzw. Häftlinge, Anzahl bis zu 1.900 Personen), die in einem Lager (Außenlager des KZ Mauthausen) vor Ort organisiert waren. Der militärische Deckname für diesen Rüstungsbetrieb lautete “Steinbruch-Verwertungs G.m.b.H., Betrieb Schlier“, benannt nach einem Mergelvorkommen in der Nähe. Als Sitz der GmbH war der nahe gelegene Eisenbahnknoten Attnang-Puchheim genannt.
Was wurde in Schlier produziert?
Im Rüstungsbetrieb Schlier wurden primär Raketentriebwerke für das Aggregat 4 (“Wunderwaffe V2”) in 2 Testständen im Wald hinter der Brauerei auf ihre Front-Tauglichkeit geprüft, bevor sie zur Verwendung ausgeliefert wurden.
Dieses Aggregat 4 stellt einen Meilenstein in der Entwicklung der Raketentechnik und der Raumfahrt dar.Wie so viele Produkte in der Technik stand vor der zivilen Nutzung zum Wohle der Menschheit eine militärische Zielsetzung, also nicht gerade zum Wohle der Menschheit. Im Unterschied zu den Raketen mit Feststoff-Antrieb, welche schon die alten Chinesen verwendeten, war das Aggregat 4 bzw. V2 (“Vergteltungswaffe”) die erste Kurzstreckenrakete mit Flüssigkeitstriebwerk und als Boden-Boden-Rakete konzipiert. Außerdem war die V2 das erste von der Menschheit geschaffene Objekt, das in den Weltraum gelangte. Kein Wunder also, dass sich nach dem Ende des WK 2 die Siegermächte wo immer möglich die deutschen Raketenfachleute wie bspw. Wernher von Braun dienstbar machten.
Einige Kennzahlen zum Aggregat 4 (“V2”)
Bezeichnung: Aggregat 4, A4, V2
Raketentypus: Kurstreckenrakete Boden-Boden
Antrieb: Flüssigkeits-Raketentriebwerk (Ethanol-Sauerstoff-Gemisch)
Hersteller: HVA – Heeresversuchsanstalt Peenemünde, Leiter GenMjr Walter Dornberger, Techn. Direktor Wernher von Braun
Entwickelt seit: 1939
Indienststellung ab: 1944
Gefechtsgewicht: Knapp 13 Tonnen
Länge: 14 m
Maximale Geschwindigkeit: Mach 4,7 (5.804 km/h)
Maximale Reichweite: 330 km
Dienstgipfelhöhe: 80 km
Navigationssystem: INS (Inertial Navigation System, dt. Trägheitsnavigationssystem)
Zünder: Aufschlagzünder
Gefechtskopf: 1 Tonne mit 738 kg Sprengstoff Amatol
Anzahl abgefeuerter V2: Ca. 3.200 mit Schwerpunkt England
Neben der primären Aufgabe als Raketen-Testzentrum wurde in Schlier auch flüssiger Sauerstoff in großen Mengen hergestellt (Deckname “Rella X”)
Weiters wurden im Laufe des WK 2 auch Teile der Nibelungenwerke (größtes Werk für Panzerproduktion im 3. Reich) von St. Valentin in die Stollen von Schlier verlagert.
Und last not least beherbergte der Betrieb Schlier in den letzten Kriegstagen ab April 1945 auch noch eine ganz spezielle Gruppe von Häftlingen, nämlich professionelle Geldfälscher (“Aktion Bernhard”).
Die heutigen Relikte des ehemaligen Werkes Schlier mit kleiner Foto-Doku
Relikte finden sich heute in Form von baulichen Überresten innerhalb und außerhalb des Brauereigeländes, während die installierten Anlagen und Produkte (Triebwerke et al) zur Gänze demontiert und fortgeschafft wurden, vorwiegend durch die Besatzer nach dem Ende des 2. Weltkriegs.
Was gibt es zu sehen?
Außerhalb des Brauereigeländes (frei zugänglich)
Das ehemalige Trafogebäude (man brauchte im Werk massiv Strom) in Form eines Betonklotzes mit 3 m dicken Wänden.
Weiters die Trasse der Anschlussbahn vom Bf Redl-Zipf in die Brauerei (2023 wurden die Gleise abgebaut).
Und auch das “Versorgungshaus”, ehemals Verwaltungsgebäude der SS, ist noch erhalten und bewohnt.
Innerhalb des Brauereigeländes (nur mit Führung möglich)
Im Gebäude diverse Keller, Gänge und Stollen, tw. mit Schienen. Teilweise werden die Keller noch von der Brauerei als Lagerräume genutzt. Weiters den Aufzugschacht, in dem die Triebwerke vom Keller (Stollen) in einen der beiden Raketenteststände nach oben transportiert wurden.
Außerhalb des Gebäudes im Wald (Hügel) den Bunker mit den beiden Raketenprüfständen. Weiters Einrichtungen zur Belüftung der Keller/Stollen und weitere bunkerähnliche Objekte
Über die ARGE Schlier, Führungen, Anreise
Die Arbeitsgemeinschaft “ARGE Schlier” wurde von interessierten Personen deswegen gegründet, um die Stollen- und Bunkeranlagen des ehemaligen Rüstungsbetriebes Schlier zu erhalten, zu dokumentieren und geordnet zugänglich zu machen. Die Mitarbeiter arbeiten ehrenamtlich und dann und wann werden für einen kleinen Kreis Führungen durch die ehemalige Anlage Schlier organisiert.
Neben der Erhaltung und Dokumentation der Anlagen Schlier im heutigen Brauereigelände Zipf strebt die ARGE Schlier auch an, eine regelmäßige, geordnete öffentliche Zugänglichkeit der Baulichkeiten zu ermöglichen. Einbezogen in diese Aktivitäten ist auch die von Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen teilweise errichtete ehemalige Anschlussbahn vom Bf Redl-Zipf an der Westbahnstrecke ins Brauereigelände, wobei bedauerlicherweise in einer “Nacht- und Nebelaktion” die Gleise dieser AB im Frühjahr 2023 demontiert wurden. Gleisreste finden sich noch auf dem Brauereigelände.
Die Führung dauert ca. 2 Stunden. Zu Beginn wird ein Video zum Thema präsentiert, danach geht man in die Keller und Stollen. Zum Schluss geht es noch in den Wald hinter der Brauerei mit Besichtigung u.a. des Testbunkers für die Triebwerke der V2. Zum Abschluss lockt noch ein Einkehrschwung in das Zipfer Bräustüberl.
Die Anreise mit Öffis ist mit Regionalzügen bis zum Bf Redl-Zipf möglich, von dort ca. 30 Minuten Fußweg. Es hat auch eine Bushaltestelle direkt vor der Brauerei, die allerdings nur werktags bedient wird.
Danksagung
Ich möchte mich im Namen meiner Leserschaft für die interessante und gut organisierte Besichtigung der Anlagen von Schlier durch ehrenamtliche Mitglieder der ARGE Schlier im September 2023 bedanken. Besonderen Dank möchte ich dem Spiritus Rector des Projektes ARGE Schlier, dem Leiter des Bergbau-Archivs Ampflwang, Doktor Hannes Koch, für sein Engagement aussprechen.
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Text / Fotos / Videos copyright DEEF / Dr. Michael Alexander Tiberius Populorum
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Bericht von: Dr. Michael Alexander Tiberius Populorum, Chefredakteur Railway & Mobility Research Austria / DEEF
Erstmals Online publiziert: 10. März 2024; Letzte Ergänzung / page last modified 10.3.2024