Die Mariazellerbahn – Österreichisches Kulturerbe in grandioser Naturlandschaft

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Teil 1: Überblick, Geschichte bis 2010
Präambel: Als ich vor kurzem wiederum eine Exkursion auf der Mariazellerbahn machte und mich an der grandiosen Bergstrecke delektierte, konnte ich nicht glauben, dass gleichzeitig in den (beschränkten) Gehirnen mancher PolitikerInnen die Vorfreude auf die Stillegung dieser Strecke herumgeistern sollte. Doch – wenn man den diversen Postings in Fachforen und den Printmedien Glauben schenken will – so scheint dem wirklich so der Fall zu sein.
Diese Strecke ist ein “Kleinod”, hat Potential – dies kann ich mit Fug und Recht behaupten, der ich doch oft in der Schweiz war und unzählige Bahnen visitiert hatte. Nur es bedarf eines Wollens, ein bisschen Herzblut ist auch nicht schlecht, und wie jedes Unternehmen müssen natürlich auch Anbieter von Verkehrsdienstleistungen bzw. touristischen Leistungen um ihre Kunden werben, mit ihnen kommunizieren.

Zumindest diesbezüglich scheint Österreich wirklich tiefstes Entwicklungsland zu sein. Zugbegleiter erzählten mir – wie übrigens auch auf der Ybbstalbahn – dass hier seitens des Bahnmanagements (und der Politik) gar nicht gewollt wird, dass die Bahn erfolgreich ist, oder gar, dass sich die Mitarbeiter vor Ort für die Bahn einsetzen. Es wird ganz im Gegenteil alles versucht, die Strecke hinabzuwirtschaften, um sie zu liquidieren und dann in Folge aus der Bilanz nehmen zu können.




Aber an dieser Stelle vorerst einmal nur ein paar Daten und Fakten sowie Fotos zur Mariazellerbahn – warum ist diese Meisterleistung eigentlich noch nicht unter Denkmalschutz gestellt worden ??
Allgemeines

Die Mariazellerbahn ist die einzige elektrifizierte Schmalspurbahn Österreichs, hat eine “bosnischer Spurweite”, die – nach heutigem Sprachgebrauch – die niederösterreichische Landeshauptstadt St. Pölten mit dem berühmten steirischen Wallfahrtsort Mariazell auf einer Strecke von 84 km (vorher bis Gußwerk 91 km) verbindet. Räumlich gesehen lässt sie sich in eine Talstrecke (St. Pölten – Laubenbachmühle) sowie eine Bergstrecke mit einer Nordrampe (Laubenbachmühle – Gösing) und einer Südrampe (Gösing – Mariazell) unterteilen. Die an Kunstbauten überaus reiche Bahnstrecke hat eine maximale Neigung von 25 Promille (auf dem aufgelassenen Streckenteil Mariazell – Gußwerk) und erreicht im längsten Tunnel der Strecke, dem 2.369 m langen “Gösingtunnel”, den Scheitelpunkt mit 892 m.

Nukleus dieser Strecke ist die Verbindung St. Pölten nach Kirchberg an der Pielach, die sogenannte Pielachtalbahn, welche 1898 eröffnet wurde. Erst 1907 war die Strecke nach Mariazell und Gußwerk für den Personenverkehr fertiggestellt worden und somit wird verständlich, dass unter dem Begriff Mariazellerbahn ursprünglich nur die Strecke Kirchberg an der Pielach – Gußwerk bezeichnet wurde. Im amtlichen Jargon hiess die Mariazellerbahn auch “Niederösterreichisch-Steirische Alpenbahn”.
Die Mariazellerbahn nach Fhr. V.v. Röll
Lassen wir zum Thema “Mariazellerbahn” aber vorerst den Doyen des altösterreichischen Eisenbahnwesens, Freiherrn Victor von Röll, zu Wort kommen:
Mariazellerbahn. Die Fortsetzung der 31∙3 km langen Schmalspurbahn (Spurweite 0∙76 m) von St. Pölten nach Kirchberg (Niederösterreich) ist die mit gleicher Spurweite ausgeführte Bahn von Kirchberg (372 m ü. M.) über Laubenbachmühle (533∙5 m), Gösing (889∙5 m), Mariazell Wallfahrtsort (849 m) nach Mariazell Gußwerk (742 m) mit rd. 60∙0 km Länge (die Betriebslänge ist in den Fahrplänen mit 78 km angegeben), die bei Mitterbach 48∙7 km von Kirchberg entfernt in das Kronland Steiermark eintritt.

Die Bahn ist Eigentum des Landes Niederösterreich und wird von der Direktion der Landesbahnen betrieben. Die Größtsteigungen bewegen sich auf den einzelnen Teilstrecken von 15–25‰, die kleinsten Krümmungshalbmesser betragen 90 m. Der längste Tunnel ist der Gösing-Tunnel mit 2368 m Länge; dessen höchster Punkt 891∙6 m ü. M. liegt. Der Sohlstollen wurde z. T. mit elektrischen Bohrmaschinen aufgefahren, wobei 3∙6 m/Tag mittlerer und 5∙0 m/Tag Größtfortschritte im Triaskalk, Sandstein und dolomitischen Kalk erzielt wurden. Außerdem waren etwa 16 kleinere Tunnel mit rd. 1320 m Länge erforderlich. Der Oberbau besteht aus 12 m langen Schienen von 21∙8 kg/m Gewicht, die durch je 16 Schwellen von 1∙8 m Länge, in den Bögen aus Eichen- und Lärchenholz, in den Geraden aus Fichtenholz unterstützt werden.
Zwischen Kirchberg und Gußwerk sind 19 Zwischenstationen und Haltestellen angeordnet. Die Bahn wurde anfänglich mit Dampflokomotiven, vom 1. Oktober 1911 an elektrisch (Einphasen-Wechselstrom von 25 Perioden und 6000 Volt Fahrdrahtspannung, 25.000 Volt Speisespannung) betrieben. Der Strom wird von dem Elektrizitätswerk bei Wiener-Bruck und Trübenbach (Wasserkraftanlage) geliefert, außerdem dient ein mit Dieselmotoren betriebenes Werk in St. Pölten als Reserve.

Die Teilstrecke Kirchberg-Laubenbach wurde Anfang August 1905, die beiden Strecken Laubenbach-Gösing und Gösing-Mariazell-Gußwerk wurden am 1. Mai und 1. Juli 1907 dem Betrieb übergeben. Die Fahrgeschwindigkeit bei Dampfbetrieb betrug 30 km/Std.; bei elektrischem Betrieb 45 km/Std. Die elektrischen Lokomotiven haben 2 dreiachsige Drehgestelle, daher 6 Triebachsen und 2 Antriebe mit je 250 PS/Std. und 45 t Dienstgewicht. Die Kosten der rd. 60 km langen Bahn betrugen ohne die elektrischen Einrichtungen rd. 12 Mill. K; auf den Gösingtunnel entfallen hiervon 1∙5 Mill. K. (Röll, Freiherr von: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Band 7. Berlin, Wien 1915, S. 244-245).

Weltrekord-Lok

Weltrekord: Die ältesten ununterbrochen in Dienst stehenden Lokomotiven der Welt auf der Mariazellerbahn – vormals “E1” 1911 zu Rölls Zeiten mit altem Wagenkasten (oben, Foto Wikipedia gemeinfrei), unten ab 1960 mit neuem Wagenkasten als “1099” vor dem Depot in St. Pölten Alpenbahnhof 2008 (Foto DEEF Dr. Michael Populorum).

Meilensteine
“Milestones” der Genese der Eisenbahnstrecken im Kontext mit der Mariazellerbahn inkl. nicht-verwirklichter Projekte:
1898 (4. Juli) Eröffnung (=1. Planzug) Pielachtalbahn St. Pölten – Kirchberg an der Pielach (31,3 km)
1898 (27. Juli) Eröffnung Seitenast der Pielachtalbahn Obergrafendorf – Mank (“Krumpe”, 18,1 km)
1905 (6. August) Eröffnung Kirchberg an der Pielach – Laubenbachmühle (17,3 km)
1907 (2. Mai) Eröffnung Laubenbachmühle – Mariazell (“Bergstrecke”, 35,9 km)
1907 (15. Juli) Eröffnung Mariazell – Gußwerk (6,8 km, in Gußwerk Kanonenfabrik)
1908 (4. August) Verlängerung Seitenast Mank – Ruprechtshofen (8,6 km)
1912 Durchgehender elektrischer Betrieb auf der Mariazellerbahn (Einphasenwechselstrom, 25 Hz, 6.500 Volt Fahrdrahtspannung) – die Seitenäste blieben bis zum heutigen Tag ohne Strom
1913 Konzessionserteilung Ruprechtshofen – Wieselburg an der Erlauf – Gresten (35,8 km), aufgrund Kriegsbeginn wurde nur Unterbau fertiggestellt, “Inselbetrieb” für Kriegsgefangenenlager zwischen km 9,9 und 11,1; nach dem Krieg Verfall der Konzession, teilweise Demontage
1927 (29. Juni) Eröffnung Ruprechtshofen – Wieselburg a.d.E. – Gresten nach neuerlicher Konzessionserteilung
Somit umfasste das von St. Pölten ausgehende und im Kontext zur Mariazellerbahn stehende Schmalspurnetz – welches verwirklicht wurde – eine Länge von 154 Kilometer (grösste Ausdehnung).

Dass dieses Schmalspurnetz ursprünglich nicht nur isoliert als Verkehrsträger für die anwohnende Bevölkerung bzw. Transportmittel für Gewerbe/Industrie sowie als Zubringer für Pilger und Touristen zum bedeutendsten österreichischen Wallfahrtsort Mariazell bzw. das Ötscherland gedacht war, sondern die Marizallerbahn als Teil eines deutlich grösseren Verbindungsnetzes zu sehen ist, belegen die zahlreichen – leider bis dato – unverwirklichten Projekte:
1871 Projekt St. Pölten – Mariazell – Bruck an der Mur, weitere Überlegungen zu Verbindungen der “Westbahn” mit der “Südbahn” durch die niederösterreichisch-steirischen Alpen
Abzweigung von der 1876 begonnenen Strecke Leobersdorf – St. Pölten nach Mariazell und weiter nach Mürzzuschlag oder Bruck an der Mur
Traisen – Kernhof (1878/1893) – Mariazell (-)
Mürzzuschlag – Neuberg (1879) – Mariazell (-)
Freiland – Türnitz (1908/stillgelegt seit ) – Mariazell (-)
Schmalspurbahn Kapfenberg – Au – Seewiesen (1893) – Mariazell (-); Vorkonzession Gußwerk – Wegscheid – Seebach-Turnau (1908/1914/1928)
1926 Vorkonzession Lokalbahn Mitterdorf – Veitsch – Mariazell
1926 Vorkonzession Normalspurprojekt Neuberg – Mariazell
Verbindung Ybbstalbahn – Mariazellerbahn: BBÖ plante dazu ab 1935, die Strecke Wieselburg a.d.E. – Kienberg-Gaming mit einer 3. Schiene auszustatten. Wiederaufnahme durch Deutsche Reichsbahn, letzter Realisierungversuch (bis dato) 1955
Nicht realisiert wurden weiters die Elektrifizierung des Seitenastes (“Krumpe”) Obergrafendorf – Mank – Wieselburg a.d.E sowie eine bereits ab 1908 geplante Anbindung des Ortszentrums von Mariazell (der Bahnhof liegt über 1 km ausserhalb im Ortsteil St. Sebastian).
Seit kurzem ist dieses Projekt aber wieder aktuell durch eine geplante Strassenbahnverbindung (Verlängerung der “Museumstramway Mariazell-Erlaufsee”) unter Einbeziehung des ab 1988 eingestellten Abschnitts Mariazell – Gußwerk.


Betriebsführung
Die Betriebsführung der Mariazellerbahn erfolgte in den Anfangsjahren durch die Niederösterreichischen Landesbahnen (NÖLB). Nach deren Zahlungsunfähigkeit übernahmen Österreichischen Bundesbahnen (BBÖ) 1922 den Betrieb und seit 1935 ist die Bahn im Staatseigentum und wird von der Staatsbahn (BBÖ, jetzt ÖBB) betrieben.

Nachdem die Mariazellerbahn durch die ÖBB total abgewirtschaftet wurde und stillgelegt werden sollte, übernahm zum Glück das Land Niederösterreich die Mariazellerbahn, sanierte sie umfassend und wir seither als moderne Regionalbahn nach Schweizer Vorbild geführt. Einheimische wie Touristen profitieren seither stark durch diesen mutigen Schritt der NÖVOG in Richtung Zukunft!
Die Elektrifizierung der Mariazeller Bahn
Die Elektrifizierung der Mariazellerbahn erfolgte bereits 1912 – die Mariazellerbahn ist die einzige elektrifizierte Schmalspurbahn Österreichs. Der eingespeiste Einphasenwechselstrom 25 Hz, 6,5 Kilovolt Fahrdrahtspannung stellt ein Unikat dar und kommt aus einem eigenen Bahnstromnetz im Eigentum der EVN. Ursprünglich kam der Strom aus dem Kraftwerk Wienerbruck, wo der Strom tw. direkt in die Leitung eingespeist wurde, tw. über die Unterwerke Kirchdorf und Ober-Grafendorf eingespeist wurde. Als Ausfallsicherung dienten noch 2 Dieselgeneratoren im Alpenbahnhof St. Pölten.
Heute erfolgt die Stromerzeugung und Einspeisung primär über das Kraftwerk Erlaufboden und die Unterwerke (=Umspannwerke) Gösing und Rabenstein mit einer 27KV Leitung als Rückgrat.

Fazit

Die Mariazellerbahn ist eine höchst interessante und besuchenswerte Strecke. Vor allem die Bergstrecke sucht ihresgleichen, die dichte Abfolge an Tunnels, Brücken und Viadukten während der Fahrt durch teilweise unberührte Natur sowie prächtigem Blick auf das Ötschermassiv stellen ein Highlight unter den Bahnen Europas dar. Allerdings fehlt es in Österreich – im Gegensatz bspw. zur Schweiz -an einem durchdachten, nachhaltigen und von der Politik getragenen Konzept.
Jahrelang wurde kaum was in die Strecke investiert, die Folge sind zahlreiche Langsamfahrstellen sowie eine teilweise äusserst “ruppige” und eher unbequeme Fahrt – für den Touristen mag dies noch einen Erlebniswert haben, für den täglichen Pendler ist das eine Zumutung. Es gibt keinen wirklichen Taktverkehr, 5 durchgehende tägliche Verbindungen, wobei der letzte Zug um 16.41!!! St. Pölten Richtung Mariazell verlässt. Auf der Talstrecke gibt es verdichteten Verkehr. Als touristische Massnahme fährt seit einigen Jahren der “Ötscherbär” mit 1. Klasse und Bordverpflegung, im Grunde eine gute Idee, aber als singuläre Massnahme (“Insellösung”) nur von marginaler Nachhaltigkeit.
Die Schuld für dieses Versagen dem Betreiber, also der ÖBB, anzulasten, greift zu kurz – es ist ein Total-Versagen der Politik, die in Sonntagsreden zwar vom nachhaltigen, sanften Tourismus redet, die von CO2-Reduktion faselt und ein “Weg von der Strasse, hin zur Schiene” im Bierzelt verkündet, aber ein aktive, agierende Politik mit konkreten, “behirnten” Konzepten gibt es so gut wie nicht. Es wird nur – wenn es nicht mehr anders geht – hüftschussartig reagiert statt präventiv agiert (wie übrigens in vielen anderen Politikfeldern auch), meist mit einer weiteren Ausdünnung und “Unattraktivierung” des Angebotes bis hin zu einer Stillegung der Strecke.
Mit Ende 2010 endet die Ära der Staatsbahn auf der Mariazellerbahn ebenso wie auf der Krumpe, das Land Niederösterreich ist wieder wie schon bis 1922/1935 Betreiber und Eigentümer der Strecke. Allerdings könnte die Mariazellerbahn ebenso wie anderen Linien in NÖ (Ybbstalbahn, Wachauerbahn..) dann “vom Regen in die Traufe” kommen (Stichwort: “Wintersperre”) – denn offensichtlich gibt es auch im Land NÖ bei den zuständigen Politikern weder Kompetenz noch Kreativität, es fehlen Politiker, die “ganzheitlich” zu denken gelernt haben und den Betrieb einer Eisenbahn “volkswirtschaftlich” zu bilanzieren verstehen – von Willen oder Herzblut ganz zu schweigen. Aber wie heisst es so schön: “Ein Volk hat immer die Politiker, die es sich verdient” – Armes Österreich, arme Mariazellerbahn….


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Text / Fotos / Videos copyright DEEF / Dr. Michael Alexander Tiberius Populorum
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Bericht von: Dr. Michael Alexander Tiberius Populorum, Chefredakteur Railway & Mobility Research Austria / DEEF
Erstmals Online publiziert: / page first published 25. September 2010; Seiten-Relaunch 21.6.2025; Letzte Ergänzung / page last modified 21.6.2025