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Während man zu Fuß oder mit dem Auto von Schelleberg die ca. 170 Höhenmeter schnell in der Direttissima bewältigen kann, folgt der Radweg der alten Trasse, die sich noch einige Kilometer an der Lehne taleinwärts zieht, um dann im alten Pflerschertunnel um 180 Grad wieder talauswärts Richtung Gossensass zu schwenken. Zur Linienführung der Brennerbahn in das Pflerschertal bemerkte die k.k. priv. Südbahngesellschaft in ihrem Werk "Die Südbahn und ihr Verkehrsgebiet in Österreich-Ungarn" u.a. folgendes (zitiert bei Dultinger "Die Brennerbahn" 1980, S. 31-32): Manche Passagiere verlassen den Zug (in Schelleberg) und legen den Weg hinunter nach Gossensaß zu Fuß zurück, sie haben unten gerade noch Zeit, ein Glas Bier zu trinken, bis der Train den weiten Umweg in das Pflerschtal durchfahren hat .... Nach kaum viertelstündiger Fahrt ist Gossensaß erreicht, und die von Schelleberg zu Fuß herabgekommenen Reisenden können nun wieder nach dem vergnüglichen Intermezzo den Zug besteigen, das heißt, falls sie denselben nicht etwa bei einigen Krügel Gossensasser Eigenbräu glücklich versäumt haben". Langer Weg dafür geringe Neigung. Unterhalb der alten Trasse sieht man die Gleise und hört das Scheppern der Güterzüge. Die Sonne hat zwischenzeitlich ihre Kraft entwickelt und mit Blick in Marschrichtung direkt auf den 3.097 m hohen Pflerscher Tribulaun (Stubaier Alpen) komme ich noch an zwei verfallenden Häuschen vorbei sowie einer Signalanlage, die nun funktionslos neben dem Radweg steht. Hat man sie bewußt als Denkmal, als Artefakt vergessen oder war man schlampig? Der Eisenbahnfreund ist aber glücklich über solche Artefakte. Dann kam ich zum schon angesprochenen alten Pflerschtunnel (Tunnel von Ast, Aster-Tunnel) (Galleria Fleres, galleria ferroviaria ast), dem 761 m langen Kehrtunnel und Locus Typicus (1. Eisenbahkehrtunnel der Welt) für zahlreiche nachfolgend so gebaute Tunnel (Pendant auf der Nordrampe der Kehrtunnel von St. Jodok). Der auch Aster-Tunnel genannte Tunnel wurde am 20. Dezember 1866 durchschlagen, der Bau war mit Schwierigkeiten und Todesopfern verbunden. Gut kann ich mich noch an diesen Tunnel von meinen zahlreichen Italienfahrten her erinnern, allerdings war mir damals weder Name noch Geschichte bekannt. Der Radweg führt um den Tunnel herum. Aus dem Inneren der finsteren Röhre dröhnte Motorgeräusch heraus und Licht blendete mich. Ich holte vorerst meine kleine Taschenlampe heraus und marschierte ca. 100 Meter hinein. Dort traf ich den "Bauer von Ast" , der mit seinem Traktor den im Tunnel noch vorhandenen Eisenbahnschotter für seinen Hausumbau rausholte. Wir unterhielten uns und ich fragte ob man durchgehen kann. Er antwortete, prinzipiell ja aber nur auf meine eigene Verantwortung, der Tunnel sei nämlich nicht nur dunkel sondern auch lang, an die 800 Meter. ich fragte, ob er schon mal durchgegangen sei. "Ja, öfter", sagte der Senior, er war bei der Eisenbahn und Streckengeher und da auch für den Pflerschertunnel verantwortlich. Von ihm erfuhr ich auch dann den Weg außenrum zum anderen Tunnelportal sowie zum neuen Tunnel. Weiters, daß sie den alten Tunnel etwas abgeschremmt hätten, damit die RoLa durchpasst. Und der neue Tunnel hat mit sich gebracht, daß die Wasserquelle für den Ortsteil Ast versiegt ist, die fließt jetzt über den neuen Tunnel ab und sie mußten an die Ortswasserleitung angeschlossen werden. Porca miseria oder tirolerisch Sauerei. Ich dachte mir, wenn jetzt Elob, der Recke von S. da wäre, dann wäre es kein Problem mit dem Durchgehen. Aber alleine ist es eher riskant, da findet einem keiner, wenn man bspw. strauchelt und sich verletzt. Und event. taucht ja ein riesiger "Tunnelmolch" auf und versucht mich zu fressen..Ausserdem kam mir in Erinnerung, daß im alten Pflerschertunnel zahlreiche Menschen ihr Leben lassen mußten - nicht nur beim Bau (bedingt durch Einbrüche), sondern es kam offenbar auch im 1. Weltkrieg zu einem Unglück mit zahlreichen Toten. Also eroberte ich dieses längste "ferrovaginale Artefakt" auf der gesamten alten Brennerstrecke nur teilweise. Ich schoß also einige Fotos und machte mich außen rum auf den Weg zu den Tunnelmäulern des alten und des neuen Pflerschertunnels, die in nur wenigen hundert Metern Abstand zu finden sind. Ein Ausschnitt aus den geschossenen Bildern
Müde von der Wanderung aber befriedigt vom Erlebten wanderte ich dann entlang des Bachweges entlang des Pflerscherbaches nach Gossensass (Gemeinde Brenner). Leider hatte der von mir angesteuerte Moarwirt Ruhetag - sakradi, und so hatte ich mich auf ein "Nockentris" mit Schlutzer und Co. gefreut. Nach einem kurzen Rundgang durch den alten Bergwerksort (bedeutende Silberminen im Mittelalter, sehenswert die "Barbarakapelle" sowie das sehr umstrittene Beinhaus der italienischen Faschisten) habe ich in der Pizzeria Europa Spaghetti Bolognese und dazu einen Salat gefuttert. Keine wirkliche Offenbarung, aber in Ordnung und ich hatte großen Hunger. Das Forstbier löschte meinen Durst vorerst, auch wenn hier die Unsitte eines 0,4 Literglases für ein großes Bier anzutreffen war. Die Fahrkarte retour zum Brenner löste ich schon vorher und entwerte sie auch gleich, denn vergessen kann in Italien teuer werden. Fahrtkosten 2,50 Euro. Die Bar im Bahnhof Gossensass ist aktiv, aber zumindest der Außenbereich, wo auch Leute saßen, machte einen eher verwahrlosten Eindruck. Aber sowas kann auch ganz reizvoll sein. Ein Güterzug donnerte durch, unmittelbar neben den Tischen der Bar im Außenbereich. Heftig. Der Bahnhof an sich ist gut erhalten, wobei allerdings der offenbar neuer errichtete Mittelbahnsteig sehr gefährlich ist – die Steinplatten sind völlig uneben und noch dazu wackeln sie und die Züge donnern unmittelbar daneben durch. Da hilft es auch nicht, wenn man die laufend propagierte „Gelbe Linie“ nicht überschreitet wenn man dahinter strauchelt und dann über die Linie fliegt. So ein Mißstand scheint bei uns (noch) undenkbar zu sein. Der Schalter ist unbesetzt, für Tickets, die nicht aus dem lokalen Automaten gelöst werden können, muß man eine kostenpflichtige Hotline anrufen. Ein Unding. Die Rückfahrt Mit dem Regionale um 17.08 dann retour, um diese Tageszeit geht alle halbe Stunde ein Zug, ansonsten mindestens stündlich. Die Fahrt erinnert mich an meine Reisen weiter in den Süden, wo die damals orangen Regionale auch so mit Karacho durch die Tunnels gebraust sind, die Fenster oft offen, ein Höllenspektakel. Jetzt sind die Züge grün und blau aber offenbar aufgrund der Leichtbauweise recht laut. Ich möchte nicht wissen was passiert, wenn es so ein Leichtmetallding im Pflerschertunnel „zerlegt“ und dann vielleicht noch ein schwerer Güterzug entgegenkommt. Überhaupt mit Steuerwagen voraus, der wirkt ja schon so total filigran.
Nach dem Ritt durch den neuen Pflerschertunnel am Brenner dann nicht den löblicherweise immer sofort verkehrenden Anschlußzug am nördlichen Stumpfgleis nach Innsbruck genommen, sondern der Bahnhofs-Bar einen Besuch abgestattet. Die Chefin hat das Etablissement vor 5 Jahren übernommen und kam bei der FS, der der Bahnhof ja gehört, deshalb zum Zug, weil sie eine Renovierung der alten heruntergekommenen Spelunke versprach. Das Merlotachterl vom Faß kostet 1.- Euro, sehr löblich. Dazu gibt es noch gratis so kleine Gaumenkitzler wie Parmesan und scharfe Pfefferoni und Pasten. Die Bar hat keinen Ruhetag und ist Anlaufstelle für die Einheimischen sowie der österreichischen Polizei und der italienischen Carabinieri.
Eine halbe Stunden später ging es ab in Richtung Heimat. Im EC (österreichische Garnitur) dann noch Ausweiskontrolle durch einen Haufen Polizisten, die löblicherweise wegen der „Tunesieraffäre“ verstärkt kontrollierten. Wobei ich nicht annehme und auch nicht hoffe, daß sie mich für einen aus dem Maghreb gehalten haben. Diese Wanderung als einzigartige Publikation für Zuhause bestellen >>>
Linktips/Literatur: Michael Alexander Populorum, 2011: Eisenbahnarchäologische Exkursionen südlich des Brenners: Teil 1: Auf Schusters Rappen vom Brenner nach Gossensass. Schriftenreihe des Dokumentationszentrums für Europäische Eisenbahnforschung (DEEF), Band 2 (2011). Mercurius Verlag Grödig/Salzburg. Fotographische Geländetour 2004/2005 auf der alten Strecke: http://www.herbert-thiess.de/Pflersch/ Wikipedia-Artikel (deutsch und italienisch) Diverse Bahntrassenradwege mit guter Beschreibung und Fotos: http://www.bahntrassenradwege.de/ Zur Brennerbahn bzw. Brennerbasistunnel: http://www.dokumentationszentrum-eisenbahnforschung.org/brennerbasistunnel.htm www.tecneum.eu - ein virtuelles Technikmuseum. Fachkundige Beschreibung und Dokumentation aller Bahnhöfe in Südtirol (einst und jetzt) primär aus der Sicht von Architekten. Auf Sammlungen" klicken, dann auf Eisenbahnen 3 Jungs marschieren mit Videokamera durch den alten Pflerschtunnel http://www.youtube.com/watch?v=P44ed2UGNag You Tube Video vom letzten Betriebstag 1999 in Schelleberg/Moncucco: http://www.youtube.com/watch?v=PrYyWc58xgI Reiseführer "Südtirol" vom Michael Müller Verlag Kompass-Wanderkarten 1:50.000 "Südtirol" (günstiges Set aus 4 Karten) Röll, Victor, Freiherr von: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Band 3. Berlin, Wien 1912, S. 62-65 Dultinger, Josef, 1980: Die Brennerbahn. Gestern, heute, morgen.
Eisenbahn-Archäologische Wanderung von Bozen nach Waidbruck auf der alten Brennereisenbahn >>>
Sollten Sie Anregungen zu den Projekten haben oder eigene Beiträge oder Fotos präsentieren wollen, so freuen wir uns auf eine Kontaktaufnahme. Haben Sie einen Fehler entdeckt? Bitte um Info > redaktion@dokumentationszentrum-eisenbahnforschung.org Bericht von: Dr. Michael Populorum, Chefredakteur DEEF; Erstmals online publiziert: April 2011; Änderungen/Ergänzungen: 22. Oktober 2016 |
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Samstag, 22. Oktober 2016 10:30:22 +0200
Autor/F.d.I.v.: Kons. Univ. Lekt. Dr. Michael Alexander Populorum DEEF # Dokumentationszentrum für Europäische Eisenbahnforschung #
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