DEFF Dokumentationszentrum für Europäische Eisenbahnforschung Dr. Michael Populorum AustriaEisenbahnforschung # Eisenbahn-Archäologie # Eisenbahn-Geographie # Eisenbahn-Geschichte

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Zum Niedergang der Reisekultur auf Schienen

Ein Reader in mehreren fortlaufenden Teilen

Teil 2: Der Railjet - Top oder Flop?

Der Railjet - Top oder Flop?

Im Rahmen einer Exkursion mit der SGG hatte ich schon vor dem offiziellen Start der Railjets (Synonym Schienendüse, Bluatwurscht, Quäljet) Gelegenheit, den Railjet in Salzburg etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Der erste Eindruck: Modernes, gefälliges Design mit einigen Anleihen beim deutschen ICE, bspw. die Form der Sitze und die Bildschirme. Deren Anzahl hat man natürlich im Vergleich zu unseren germanischen Nachbarn topen müssen, seither verkündet (noch) Chris Lohner bei ihrem Willkommenssprücherl, daß der Railjet seine Fahrgäste mit 80 Screens beglückt. Angeblich sind es allerdings nur so um die 60, wie in einschlägigen Internetforen mehrmals berichtet wurde. Aber das ist nicht der einzige "Etikettenschwindel", den die Marketingmaschinerie der Staatsbahn in punkto Railjet verbreitet. So gefällig die - in einschlägigen Fachforen "Billig-Schienen-Düse" genannten - Railjets auch auf den ersten oder event. zweiten Blick wirken mögen, das ganze Konzept und auch die Details, die eine Qualität des Reisens ausmachen, die sind nicht wirklich stimmig. Der Sitztest in der 2. Klasse, "Economy" in Anlehung an die Fliegerei genannt, entpuppt sich als Katastrophe. Der Sitz läßt sich auch nicht ein klitzekleinwenig verstellen, man sitzt eng wie in einem Bus. Oder eben wie in einem Charterflieger.

Was hat man sich dabei wohl gedacht? Sowas kann wohl nur einem Schlipsträger aus der Managementriege eingefallen sein, sprich man hat sich wenig bis nichts dabei gedacht. Außer vielleicht, daß das Fliegen IN ist und vielleicht durch den Begriff Railjet und eine enge Bestuhlung wie im Flieger oder Bus diese Zielgruppen anlocken zu können. In der 1. Klasse hat man wenigstens Beinfreiheit und die Sitze sind verstellbar. Und selbst wenn die Schienendüse voll besetzt ist so kann man arbeiten, hat man doch an jedem Sitz entweder ein Tischchen oder ein Klappbord. Steckdosen sind auch für jeden Platz vorhanden, allerdings dürfte der Konstrukteuer kein Mann der Praxis gewesen sein - die Steckdosen sind mehrheitlich auf der falschen Seite installiert, nämlich so, daß man wie von einem Gurt eingesperrt ist und man die Gerätschaft ausstecken muss, wenn man aufs Klo oder ins Bistro gehen möchte.

Wobei Wer geht schon in dieses Bistro? Das fragte nicht nur ich bei der Präsentation sofort sondern auch 2 Studenten. Offenbar hat der Normalnutzer dabei mehr Hausverstand gehabt als die Entwickler des Konzeptes Railjet. Das Bistro wirkt zwar wieder auf den ersten Blick recht gefällig gestylt, modernes Design, aber die paar filigranen Tischchen, wo man so quer zur Fahrtrichtung sitzt in dem gestylten aber kühlen Ambiete, das lockt weder die Massen an und wenn, dann hätten sie keinen Platz. Dafür prangte gross am Tresen, daß "Meinl vom Graben" hier zuhause sei. Für diese Rechte zahlte die Staatsbahn angeblich 50 Mio Euro an Meinl. Aber der kocht natürlich nicht da groß auf, die Mitarbeiter von e-Express werfen dort die vorgekochten abgepackten Speisen in die Mikrowelle. Und neuerdings wird das Essen von offenbar noch billigeren Mitarbeitern dieser Cateringfirma aufgewärmt oder in der 1. Klasse am Platz serviert, der spröde Charme des offenbar zu Dumpingpreisen arbeitenden ungarischen e-Express-Personals erinnert an alte Zeiten, als die Lage in Europa noch überschaubarer war.

Abteile sucht man im Railjet vergeblich, dafür gibt es neben der 1. Klasse - eh klar, heißt natürlich anders nämlich "First", also neben der "First" gibt es noch "Premium", wo man auf die First nochmal 25 Euro aufzahlen muss und dafür in breiten fernsehsesselartigen Sitzgelegenheiten Platz nehmen darf. Mich erinnern diese Stühle auch an den Zahnarzt, eine Bekannte sah darin Gynäkologenstühle. Gratis Trinken und mehrere kleine Häppchen sind auch inklusive. Wobei nach Berichten in der letzten Zeit das eher knausriger gehandhabt wird. Eine richtig intime Atmosphäre gibt es aber nicht, so wie in den Businessabteilen, also für eine heikle Geschäftsbesprechung eher nicht geeignet. Die Premiumklasse geht auch kaum, selbst die Aktion mit 15 Euro Aufzahlung hat da offenbar nichts nachhaltiges bewirkt. Dafür gibt es im ganzen Zug keine Möglichkeit, Fahrräder zu transportieren oder grössere Gepäckstücke. Das führte schon zu massiven Klagen im Bereich des Tourismus auf der Arlbergstrecke, wo der Regionalverkehr nahezu inexistent ist und die komfortablen und mit Gepäckwagen ausgestatteten Eurocity-Züge durch den RJ ersetzt werden.

Railjet auf Salzachbrücke von der Haltestelle Salzburg Mülln Altstadt aus. DEEF / Dr. Michael Populorum

Als der RJ eingeführt wurde, fand das sogar Platz auf der Titelseite der Neuen Züricher Zeitung. Der Inhalt war aber für die Protagonisten des RJ alles andere als schmeichelhaft. Vor allem das Fehlen des Speisewagens und von Abteilen wurde massiv kritisiert. Ersteres Manko wird in Bälde zumindest teilweise ausgemerzt werden - um mehr als 2 Mio Euro werden die Bistros zu kleinen Speisewägen umgebaut. Ein Praktiker und Eisenbahnkenner mit ein bisschen Hausverstand hätte am eigentlich erfolgreichen Speisewagenkonzept nicht herumgedoktert und gleich Speisewägen bauen lassen.

Zwischenzeitlich hat man sich schon etwas an die RJ gewöhnt und es gibt sicher schlimmere Konstruktionen bei anderen Bahngesellschaften. Aber wenn man sich an die österreichische Lokomotiv- und Waggonbautradition entsinnt - beides leichtfertig liquidiert - so war man halt besseres gewohnt. Man denke da vor allem an die richtungsweisenden epochalen 4010er Triebwägen, da reiste man selbst in der 2. Klasse bequemer als heute in so manch´einer 1. Klasse.

Wenn man schon Anleihen am Flieger nimmt, warum wird eigentlch dann abends das Licht nicht gedimmt? Man hätte natürlich auch eine indirekte Beleuchtung installieren können, wie in der 1. Generation der IC-Züge in Deutschland (heute noch von Deutschland via Salzburg nach Graz unterwegs) oder im ICE, der aktuell alle 2 Stunden auf der Passauer Strecke unterwegs ist. Der ICE verwöhnt die Reisenden wahrlich mit einer Wohnzimmeratmosphäre im Unterschied zum RJ mit seinem eher morbiden Grau und der grellen Beleuchtung.  Da der RJ keine indirekte Beleuchtung hat aber gleichzeitig optimale Leseleuchten (so gute habe ich noch nirgends gesehen bei der Eisenbahn) warum wird man da so mit grellem Licht bestrahlt? Dieses verstärkt nämlich dann abends noch die Kühle, die von der grauen Innenfarbe ausgeht. Ach ja, die Aussicht im RJ wird auch getrübt durch den grossflächigen Schriftzug Railjet, der tw. über die Fenster geht. Das schliesst den Bogen zum eingangs Gesagten "Marketing geht über alles".

In der "First" im Wagen gemeinsam mit "Premium" (Wagen 25 im RJ 68) genießt man einen Schaltschrank neben den Sitzen (der ist im EC am Gang vor dem Klo) und hört ein lautes Surren aus dem Schaltschrank und der Küche, vom Klang her wie in einem Kraftwerk oder einer alten Tiefkühltruhe in einem Kramerladen. Dabei ist das die "Pssst-Zone". Bei dem Surren entspannen fällt mir schwer.

Bei der Einfahrt bspw. in Salzburg Hbf., wenn der RJ über mehrere Weichen fährt, dann glaubt man den Atem von  "Darth Vader" zu spüren - es quitscht-knarrt-ächzt-röchelt, offenbar die Gummifederung? Jedenfalls eigenartig.

Die letzte Tranche der Railjet-Bestellung wurde bei Siemens storniert und einige Railjets sollen angeblich nach Tschechien verkauft oder verleast werden. Bleibt zu hoffen, daß die nächste Generation an Rollmaterial wieder mehr Wärme, mehr Gemütlichkeit ausstrahlt als die Schienendüse und man sich nicht dann nach Einführung des neuen Materials mit Wehmut an den RJ und die gute alte Zeit zurückerinnert.

PS: Was man so über die Zuverlässigkeit hört: Im Winter gibt es angeblich oftmalig Probleme mit den Türen. Auf der Arlbergstrecke kam es im Herbst 2010 zu einer Zugtrennung - wer das Foto gesehen hat weiß, was da hätte passieren können. Der Türschlußmechanismus, der angeblich eine volle Minute dauert, hat schon mehrmals dazu geführt, daß "just in time-Reisende" nicht mehr einsteigen konnten - wohl ein Unikum in der Eisenbahngeschichte, daß nun der unbedarfte Reisende beim RJ zwischen Abfahrtszeit und Einsteigszeit unterscheiden können sollte.

PPS: Seit den ersten Zeilen zu diesem Bericht ist mittlerweise ein gutes Jahr vergangen. Man gewöhnt sich an den Railjet, wundert sich allerdings immer noch, warum bei dem Konzept für die Neuentwicklung des Railjets solche "Anfängerfehler" passiert sind.

Anregungen zur Optimierung des Railjets bzw. zur Vermeidung von
ähnlichen Schnitzern bei Neubeschaffungen:

Railjet:

Licht dimmen: Das Licht sollte abends gedimmt werden, es kaschiert etwas die trübsinnig graue Farbgebung und läßt zumindest in Ansätzen "Wohnzimmeratmosphäre" aufkommen. Anm.: Ein Nachfrage bei einem Schaffner, der vorerst auch nicht wußte, ob man das Licht dimmen kann, sagte mir nach einer Nachschau im Schaltschrank, daß es sogar 3 Lichtstufen gibt. Allerdings gibt es keine Dienstanweisung diesbezüglich also dimmt er das Licht nicht

Premium Quo Vadis: So sinnvoll eine Betriebsführung mit mehreren Klassen ist, aber bitte wen hat man sich als Kunden dieser Premiumklasse vorher eigentlich gedacht? Professionelle, zielgruppenorientierte Marktforschung jenseits rein quantitativer Abfragen über die Sauberkeit des Klos oder der Farbe des Teppichbodens oder des Wageninneren (diese Frage aber offenbar auch unterblieb) hätte wohl ergeben, daß es an Bord weniger Nachfrage von Personen Typus "Prinz von Zaramunda" gibt, die auf einem Thron posierend von Untertanen mikrogewellte Häppchen in den Mund geschoben bekommen. Dafür sicher mehr Nachfrage von Geschäftsleuten oder ruhebedürftigen Personen, die sich den Luxus eines abgeschotteten Abteils (mit individueller Lichteinstellung) gönnen möchten sowie von Radfahrern, die mit ihrem Drahtesel auf Reisen gehen. Hier wird man sich Gedanken machen müssen!

Speisewagen: Hier wurde schon reagiert, einen Vollspeisewagen wird man aber wohl nicht mehr hinkriegen beim Railjet

Kundenbetreuung durch einen 2. Schaffner (Zugbegleiter): Hier spart die Staatsbahn am falschen Platz, 1 einziger Schaffner ist für einen ganzen Railjet verantwortlich (ausgenommen Zeitungsaustragen und Verpflegung, welches meist durch ungarisches Billigpersonal durchgeführt wird). Mehrere Zugbegleiter sagten mir schon, die Zahl der Schwarzfahrer bei einem gut gebuchten RJ (bspw. von Wien nach St. Pölten)  sei enorm. Es ist ja wohl nicht von ungefähr, daß im Schweizverkehr (in Innsbruck) immer 2 Schaffner der SBB zusteigen und bei der Fahrt nach München (in Salzburg) sogar 3 Schaffner der DB an Bord kommen und für die Kunden parat stehen. Hier wird am falschen Platz gespart

Zukünftige Beschaffungen:

Farbgestaltung: Hier sind Professionisten (Farbpsychologen) hinzuzuziehen und durch den Einsatz professioneller Mafo-Tools die Kundenwünsche zu berücksichtigen. Der durchschnittliche Autofahrer schätzt die Wohnzimmeratmosphäre in seiner Blechschüssel, da kann man mit dieser tristen grauen Wand- und Deckenfärbung im Railjet nicht wirklich punkten. Während das "gemeine Volk" hinsichtlich Aussendesign unter 3 Varianten abstimmen konnte, wurde die Farbgestaltung des Innenraums wohl dem Zufall oder dem Geschmack eines depressiven Managers überlassen.

Indirekte Beleuchtung (Deckenfluter) in Kombination mit starken Leselampen sind state of the art

Arbeitsmöglichkeit auf Tischchen und mit Steckdosen sollten in allen Klassen möglich sein

Die Sessel in der 1. Klasse sind soweit in Ordnung, aber zumindest eine geringfügige Verstellmöglichkeit (Zurücklehneffekt) sollte auch für die  in der 2. Klasse Reisenden heute selbstverständlich sein

Eine funktionstüchtige Klimaanlage: Es ist ja wirklich verwunderlich, daß man im 21. Jahrhundert auf Mond und Mars fliegen kann aber es offenbar nicht schafft, einen Waggon auf bspw. 22 Grad Celsius zu halten, ohne daß es zieht und einem dabei fröstelt ("Wind Chill") oder die Ohren durch den Lärm des Gebläses maltretiert werden

Laufruhe der Wagen (ohne quitschen, röcheln, knatschen etc.) sollte wohl im 21 Jahrhundert selbstverständlich sein

Generell muß (potentiellen) Bahnkunden ein Mehrwert bei einer Reise mit dem Zug anstelle des Autos in Aussicht gestellt (kommuniziert) und dann auch geboten werden. Der Mehrwert kann sein: Statt sich gestreßt am Volant festzuhalten, zu kuppeln, zu schalten, zu bremsen, anzugasen und sich meist über andere Verkehrsteilnehmer oder den Stau oder das miese Wetter zu ärgern kann man im Zug: Arbeiten, lesen, mit anderen Personen kommunizieren und auch neue Leute kennenlernen, die Landschaft vorbeifliegen lassen und sich zurückgelehnt im Sessel entspannen, essen, trinken, Videos angucken, telefonieren, surfen etc. Letztgenanntes natürlich nur, wenn im Rahmen der verstärkten Unternunnelierung des Landes auch die entsprechenden Vorsorgen getroffen werden (was schändlicherweise auch bei Neubautunnels oftmals unterblieb).

Linktip: Vorabbesichtigung des Railjets 2008 mit Innenaufnahmen: http://www.marktforschung.co.at/Schlagzeilen/oebb.htm

>>> Teil 3 des Readers: "Die Verschlimmbesserung der Bahnhöfe - Die ÖBB-Bahnhofs-Offensive" >>> in Planung

              

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Bericht von: Dr. Michael Populorum, Chefredakteur DEEF;  Erstmals online publiziert: 28. November 2010; Letzte Ergänzung: 10.Dezember 2011

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