DEFF Dokumentationszentrum für Europäische Eisenbahnforschung Dr. Michael Populorum AustriaEisenbahnforschung # Eisenbahn-Archäologie # Eisenbahn-Geographie # Eisenbahn-Geschichte

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Der K(r)ampf um den Stuttgarter Hauptbahnhof - S 21 vs. K 21

Foto DEEF / Dr. Populorum: Der Stuttgarter HauptbahnhofSelten - eigentlich noch nie, so mich mein Gedächtnis nicht trügt - hat ein Bahnhof bzw. seine Neugestaltung soviel Staub aufgewirbelt wie der Stuttgarter Hauptbahnhof. Im Herbst 2010 war "Stuttgart 21", wie das Projekt abgekürzt genannt wird, die Topschlagzeile nicht nur in der deutschen "Tagesschau", sondern schaffte es auch als Topschlagzeile in die österreichische "Zeit im Bild". Fortschritt - oder sagen wir neutraler - Veränderung wird seit jeher von einem (Gross-)Teil der Bevölkerung skeptisch bis negativ betrachtet - denken wir nur an die ersten Eisenbahnen, an die ersten Dampfrösser, wo Ärzte allerlei Schaden für den menschlichen Organismus vorhersagten, wenn man mit einer Geschwindigkeit von 30 Stundenkilometer oder gar mehr durch die Gegend braust.

Skeptische Stimmen gab und gibt es auch bei Bahnhofsumbauten hierzulande in Österreich. Man denke nur an den Abriss des "Marmorsaals" in Salzburg, dieser feinen, edlen, an die Belle Epoque erinnernde Speisegaststätte im alten Salzburger Hauptbahnhof oder die skeptischen Stimmen beim Abriss des Wiener Südbahnhofs, der ja einem neuen Wiener Hauptbahnhof weichen musste. Ehrlich gesagt, wenn man sich so manche "Bahnhofsmodernisierungen" im Detail ansieht, kann man diesen Skeptizismus ja auch verstehen, wichen doch gemütliche Bahnhofsrestaurants austauschbaren Fast-Food-Buden, warme Holzbänke mussten kalten Nirostasitzen weichen, die Warteräume wurden unbeheizt, Toiletten versperrt, Schalter geschlossen und teilweise wurden ganze Bahnhöfe mit der dazugehörigen Infrastruktur geschlossen und statt dessen wurde unter dem Slogan der Modernisierung und der Anpassung an die Kundenbedürfnisse (die wohl nie erhoben wurden) ein "Glaskobel", unbeheizt und zugig, am Bahnsteig errichtet.

Traurig, wie sich "modernisierte Bahnhöfe" heute grossteils präsentieren. Von wenigen Ausnahmen abgesehen (bspw. dem Hbf von Lüttich "Liegé-Guillemins", dem adaptierten Gare de Strasbourg oder dem neuen Berliner Hbf) sind die heutigen Bahnhöfe alles andere als "Kathedralen der Mobilität", eher "Hütten des Proletariats".

Aber zurück zum Stuttgarter Hauptbahnhof, den ich im Rahmen meiner Exkursion im Februar 2010 ins Elsass auf der Rückreise nach längerer Zeit wieder einmal visitiert hatte. Nach einem guten Mittagessen im Bahnhofsrestaurant "Haxnwirt" machte ich eine kleine Foto-Doku vom Bahnhof und besuchte das "Turm-Forum Stuttgart 21", eine multimediale Aufbereitung des geplanten Umbaus. Vom mit dem Mercedes-Stern gekrönten Turm hat man auch einen prächtigen Blick über die weitläufigen Bahnanlagen sowie den gesamten Stuttgarter Talkessel.

Foto DEEF / Dr. Populorum: Der Stuttgarter Hauptbahnhof

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Den Bahnhof selbst, einen klassischen Kopfbahnhof wie bspw. Frankfurt und München auch, finde ich durch seine Ausmasse und Architektur äusserst imposant, für mich ist das noch eine klassische Kathedrale der Mobilität, in der man sich auch wohlfühlen kann.

Ein halbes Jahr nach meinem Besuch, als im September die Bagger auffuhren, um den Nordflügel dieser Kathedrale für den neuen unterirdischen Bahnhof von Stuttgart abzureissen, da kam es rund um den alten Bahnhof zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen den gegen den Abriss demonstrierenden Einwohnern und der die Staatsmacht vertretenden Polizei. Mit ungewöhnlicher Härte und Brutalität wurde auch gegen Frauen und Kinder vorgegangen, zumindest wurde das in den Medien so berichtet.

Ich möchte an dieser Stelle keine Wertung vornehmen, ob es hinsichtlich "Zukunftssicherung der Region für die nächsten Generationen" wirklich notwendig ist, solch ein Mammutprojekt mit zahlreichen Risken durchzudrücken (Unterirdischer Durchgangsbahnhof, Projekt Stuttgart S21) oder ob nicht auch eine Modernisierung des bestehenden Bahnhofs (Modernisierter Kopfbahnhof, Projekt Stuttgart K21) ausreichen würde. Zu denken geben sollte aber, mit welcher Unnachgiebigkeit und teilweise schon Brutalität in gegenständigem Fall die Staatsmacht ihre Muskeln spielen liess und den Wunsch von mehr als 100.000 Einwohnern nach einem Kompromiss negierte. Offensichtlich geht es um deutlich mehr als um einen neuen Bahnhof, werden doch durch den Abbruch der riesigen Gleisflächen beste Innenstadtgründe im Wert von mehreren Milliarden Euro vakant.

Foto DEEF / Dr. Populorum: Der Stuttgarter Hauptbahnhof

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Meine geschätzte Leserschaft möge sich selbst ein Urteil bilden - dazu habe ich nachfolgend zahlreiche Links aufgelistet, sowohl von Projektbefürwortern, von Gegnern aber auch von Diskussionsforen. Einleitend dazu möchte ich aber in wenigen Stichworten die am häufigsten gehörten Argumente PRO und CONTRA anführen:

DEEF / Dr. Populorum: Der Stuttgarter Hauptbahnhof

PRO Projekt Stuttgart S 21 (Offizielle Kosten 4,088 Milliarden Euro, Inbetriebnahme 2019):

Aufzählung

Der jetzige Bahnhof ist an seiner Leistungsgrenze angelangt

Aufzählung

Das "Stürzen" der Züge kostet Zeit und ist nicht mehr zeitgemäss

Aufzählung

Der neue Bahnhof spart Betriebskosten ("Null-Energie-Bahnhof")

Aufzählung

Optimale Einbindung von Flughafen und Messegelände

Aufzählung

Durch die freiwerdenden Gleisflächen ergeben sich ungeahnte Möglichkeiten für die Stadtentwicklung der City

Aufzählung

Unabdingbar für die Errichtung der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm und damit einem wichtigen Baustein für die europäische Magistrale Paris-Preßburg (Bratislava) - Teil des Transeuropäischen Netzes TEN (Prioritäres Projekt Nr. 17, auch "Magistrale für Europa" genannt)

Aufzählung

Einbindung in das Europäische Hochgeschwindigkeitsnetz

Contra Projekt Stuttgart S 21 (und für  Stuttgart K 21):

Aufzählung

Mit deutlicher weniger Mitteln lässt sich der Bahnhof durch Modernisierung und Beibehalten als Kopfbahnhof ebenfalls zukunftssicher gestalten
Eine unzureichende Leistungsfähigkeit des neuen Bahnhofs und seiner Zuführungsstrecken

Aufzählung

Enge Tunnelröhren, Bahnsteige im Gefälle, zu schmale Bahnsteige (Sicherheitsbedenken, die auch tw. durch ein Schweizer Institut bestätigt wurden)

Aufzählung

Ein Kopfbahnhof wie jetzt lässt mehr Raum und Zeit fürs Umsteigen

Aufzählung

Risiken für die Stuttgarter Mineralwasservorkommen

Aufzählung

Risiken für die Bebauung oberhalb der Tunnel, da die Tunnel durch quellfähigen Anhydrit gebohrt werden sollen

Aufzählung

Dass die tatsächlichen Kosten (wie bei vielen anderen Großbauten auch) weit über den prognostizierten bzw. geplanten Kosten liegen werden („Kostenexplosion“)

Aufzählung

Das Gefühl der Bürger, von Politik und Deutscher Bahn übergangen worden zu sein (u.a. Ablehnung eines Bürgerentscheids 2007) verübeln sie der Politik

Aufzählung

Dem Projekt fehle die demokratische Legitimation, da die Kostenprognose nach der Entwurfsplanung um etwa eine Milliarde Euro angehoben wurde, die Zustimmung aller demokratisch gewählten Gremien jedoch zuvor erfolgte

Aufzählung

Die angeführte Fahrzeitverkürzung nach Ulm entstehe primär dadurch, dass die Bahn heute deutlich langsamer auf der Strecke über die Geislinger Steige unterwegs ist als vor 10 Jahren (Versäumnisse in der Streckenerhaltung). Und wer fährt schon gerne 30 km der 60 in Tunnels?

Aufzählung

Vorhandene und gut genutzte  Bahnstrecken wie die Gäubahn werden stillgelegt

Aufzählung

Der Eingriff in den benachbarten Stuttgarter Schlossgarten mit seinem alten Baumbestand

Aufzählung

Der Abriss der Seitenflügel des Hauptbahnhofsgebäudes (Denkmalschutz)

Aufzählung

Der Einsatz großer finanzieller Mittel, deren Verwendung für andere Verkehrsprojekte sinnvoller sei

Aufzählung

Die oft als „Filz“ bezeichnete angebliche Interessenverflechtung von Bau- und Immobilienwirtschaft sowie der Politik im Rahmen des Projektes

Aufzählung

München und Frankfurt haben ähnliche Bahnhöfe und haben nach Projektprüfungen von einem Umbau Abstand genommen

Aufzählung

Die Unzumutbarkeit einer 10jährigen Baustelle den Anwohnern und Bahnkunden gegenüber

DEEF / Dr. Populorum: Der Stuttgarter Hauptbahnhof

Foto DEEF / Dr. Populorum: Der Stuttgarter Hauptbahnhof

Foto DEEF / Dr. Populorum: Der Stuttgarter Hauptbahnhof

Foto DEEF / Dr. Populorum: Der Stuttgarter Hauptbahnhof

Foto DEEF / Dr. Populorum: Der Stuttgarter Hauptbahnhof

Links / Literatur:

Stuttgart Hauptbahnhof, mit Infos zur Geschichte und Architektur http://de.wikipedia.org/wiki/Stuttgart_Hauptbahnhof

Zur Architektur des Stuttgarter Hauptbahnhofes: http://www.hauptbahnhof-stuttgart.eu

Wikipedia-Artikel zu Stuttgart S 21: http://de.wikipedia.org/wiki/Stuttgart_21

Wikipedia-Artikel zu Stuttgart K 21: http://de.wikipedia.org/wiki/Kopfbahnhof_21

Für das Projekt Stuttgart S 21 (Neubau unterirdischer Bahnhof): http://www.das-neue-herz-europas.de/default.aspx

Für das Projekt Stuttgart K 21 (Modernisierung als Kopfbahnhof): http://www.kopfbahnhof-21.de/

Schlichtungsversuch zwischen den Gegnern und Nachbesserungsvorschläge  (Stuttgart 21 Plus): http://www.schlichtung-s21.de/

Dokumentation aus der traditionsreichen Serie des SWR "Eisenbahnromantik": Folge 728 "Stuttgart 21, ein Milliardengrab?"

Diskussionsforum von Eisenbahnfreunden und Eisenbahnexperten "Drehscheibe Online": http://www.drehscheibe-foren.de/foren/list.php?113

Deutsche Bahn AG / DB Projektbau GmbH (Hrsg.), 2007: Neubauprojekt Stuttgart-Ulm. Neue Strecken, neues Verkehrskonzept für die Region, Deutschland und Europa

Deutsche Bahn AG (Hrsg.), 2009: Ideen umsetzen, Menschen verbinden, Perspektiven schaffen. Bahnprojekt Stuttgart - Ulm. Das neue Herz Europas.

Turmforum Bahnprojekt Stuttgart-Ulm e.V. (Hrsg.), 2009: Das Bahnprojekt Stuttgart-Ulm wird Europas neues Herz. Infobroschüre für die Ausstellung im Turm.

        Foto DEEF / Dr. Populorum: Der Stuttgarter Hauptbahnhof            

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Bericht von: Dr. Michael Populorum, Chefredakteur DEEF;  Erstmals online publiziert: 7. Januar 2011; Änderungen: -

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Last modified  Sonntag, 24. Mai 2015 22:13:39 +0200
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